Propstei St. Gerold
Der Weg der Sinne
Endlich Frühling. Unter den Sträuchern im Garten wetteiferten die bunten Krokusse mit den gerade aufblühenden Narzissen, und erste Tulpen streckten keck ihre Blütenköpfe der Aprilsonne entgegen.
„Magst du nicht mit uns für ein verlängertes Wochenende ins Große Walsertal fahren? Es ist ein besonderer Ort dort, eine kleine Propstei, ein Ort der Kunst, der Musik und der Begegnung. Ich kenne es von einigen Seminaren – und am Samstagabend gibt das Artemis-Quartett in der Klosterkirche ein Konzert. Und Pater Nathanael, der Propst, ein Benediktinermönch, ist ein echter Weiser. Er würde dir sicher gefallen …“ Freund Michael schwärmte.
Ich brauchte nicht lange überredet zu werden: Ein Wochenende mit den Freunden zu erleben war allein schon Grund genug, um zuzusagen.
So kamen wir also am frühen Freitagnachmittag an. Vom Bodensee über Feldkirch in Vorarlberg angefahren, hatten wir uns auf einem steilen kurvenreichen Sträßchen hochgeschraubt, bis ein unscheinbares Holzschild den Bergrücken hinunter wies. Ich war froh, hier nicht selbst fahren zu müssen. Und während am Bodensee schon die Kirschbäume Blüten ansetzten, lag hier der Schnee hochgetürmt an den Straßenrändern und von den nordseitigen Dächern hingen dicke Schneebretter.
Wir waren über 900 Metern Meereshöhe. Aber die Sonne strahlte mit Macht vom azurblauen Himmel, und man hörte den Schnee gluckernd dahinschmelzen.
Wir parkten das Auto auf dem etwas oberhalb gelegenen Parkplatz und lenkten die Schritte auf das Kloster zu. Ich zog mein Köfferchen hinter mir her und folgte den vorauseilenden Freunden. Es ging noch ein Stück den Bergrücken hinab, und durch einen hohen Rundbogen betrat ich schließlich das Klostergelände.
Auf den Ausblick, der mich hier erwartete, war ich nicht gefasst: Die Eindrücke stürmten nur so auf mich ein, und mir war, als erfasste ich alles gleichzeitig: Kleinformatiges Riemchenpflaster lenkte den Blick auf die steinerne Ummauerung des Klostergartens. Im Geviert angelegt, führten darin feingekieste Wege zum Brunnen in seiner Mitte. Weit und atemberaubend öffnete sich der Panoramablick ins Tal und auf die gegenüberliegende Bergkette mit den schneebedeckten Gipfeln.
Der zentrale Kegel erinnerte mich urplötzlich an Tibets Heiligen Berg, den Kailash, wohin ich schon lange einmal reisen wollte ...
... Groß und stattlich gewachsen, im schwarzen Habit des Benediktinerordens kam schließlich der Propst. Freundlich begrüßte er unsere Gruppe: die vier Künstler, drei weitere Gäste und mich. „Willkommen in unserer Propstei! Ich werde jetzt mit euch einen Spaziergang durch das Klostergelände machen. Dann besichtigen wir die Kirche, und anschließend möchte ich die, die gut zu Fuß sind, einladen, unseren neuen Meditationsweg, den ‚Weg der Sinne‘ mit dem angrenzenden Labyrinth kennenzulernen. Als erstes aber möchte ich euch unser Leitmotiv hier in St. Gerold vorstellen – und dafür gehen wir ein paar Schritte zum Eingang zurück.“
Er führte uns genau zu der Bronzeskulptur, die mich schon eingangs beeindruckt hatte. „Sehen Sie, hier in St. Gerold, und nicht nur hier,
ist alles Symbol, mehrsinnig: Stets schwingt hinter dem Sichtbaren das Unsichtbare. Mutter und Kind halten sich an den Händen, bilden einen Kreis und tanzen miteinander, das meint: Himmel und Erde, das Bewusste und das Unbewusste, Leib und Seele verbinden sich und reichen einander die Hand. So gelingt das Leben, so wird es zum Tanz. Und das versuchen wir hier in St. Gerold erfahrbar zu machen: in der Kunst, in der Musik – ja, sogar beim Speisen und beim Wein!“ Er lachte uns augenzwinkernd an.
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